“ICE” sagt heute “Auf Wiedersehen”
9. June 2012Christian Harant hat seine Töppen frisch geputzt, heute steht er zum letzten Mal für die TSG Calbe zwischen den Pfosten. Die Landesliga-Fußballer der TSG Calbe bestreiten heute um 15 Uhr gegen den SV Grün-Weiß Potzehne das letzte Heimspiel einer schon jetzt überaus erfolgreichen Saison. Doch der ein oder andere dürfte ein wenig Wehmut verspüren, denn mit Christian Harant sagt nicht nur ein langjähriger Torhüter, sondern eine echte Identifikationsfigur der TSG adé.
Quelle: Volksstimme von Björn Richter | Foto: Björn Richter
Eine echte Identifikationsfigur sagt “Auf Wiedersehen”
Selbst beim wahrscheinlich vorletzten Fototermin seines Fußballerlebens überlässt Christian Harant nichts dem Zufall. “Fußballschuhe? Die muss ich erst noch putzen”, sagt er, verschwindet kurz im Badezimmer seines Hauses in Felgeleben und kommt mit gewienerten Töppen wieder heraus. “Ich habe noch nicht so oft Strafe in die Mannschafskasse für ungeputzte Schuhe abdrücken müssen.” Das soll auch bitte- schön so bleiben, wenn heute die letzten fünf Minuten in Harants Zeit als Torhüter anbrechen.
Kurz vor 17 Uhr werden die Kameras vor ihm noch einmal klicken, dann aber wirklich zum letzten Mal. Harant wird ein paar Hände schütteln, vielleicht ein kleines Präsent entgegennehmen, “Danke” sagen und dann war es das endgültig mit ihm und dem Leistungs- sport. Zuvor, so will es der Plan, wird der 40-Jährige in der 85. Minute des Spiels der Calbenser gegen Grün- Weiß Potzehne eingewechselt. “Wenigstens einen Ball will ich noch fangen. Ich habe schon mit unseren Abwehrspielern gesprochen.” Aber ob die Gästestürmer auch Bescheid wissen?
Nichts wäre wohl schlimmer, als wenn Harant heute noch ein Gegentor frisst. Das, was er bisher über sein halbes Leben lang gemacht hat, das Fausten, Parieren und Fangen, möge ihm doch heute noch einmal für fünf Minuten gelingen. “Schlaflos bin ich noch nicht, aber gedanklich habe ich die Partie schon einige Male durchgespielt. Am Ende kommt es ja doch anders.”
So wie damals, im August 1978. Der Siebenjährige und sein Zwillingsbruder Christoph waren eigentlich begeisterte Schwimmer. Bis ein Besuch einiger Herren die beiden und den Fußball zum ersten Mal zusammenbrachte. “Damals haben die Vereine recht offensiv an der Schule geworben. Christoph und ich haben uns das mal im Training angeschaut und dann den Sport gewechselt.” Die erste seiner beiden einzigen Stationen hieß BSG “Motor” Schönebeck, der Vorläufer des heutigen Schönebecker SV. Mit “Motor” spielte Harant in der DDR-Juniorenliga, später wurde er Hallen-Vizelandesmeister, stand 1997 im Landespokalfinale und lief einige Jahre in der Verbandsliga auf. Ehe es 1998 “mit dem Verein und dem Umfeld nicht mehr gepasst” hat, wie der Sozialversicherungsangestellte ohne jedes Naserümpfen, Brauenhochziehen oder eine Kunstpause nüchtern feststellt. Wie zum Beleg führt er jene Episode an, als die TSG Calbe Ende 1997 anfragte, Harant aber mit dem Wechsel noch bis zum Saisonende wartete. “Ich wollte die Jungs beim SSV nicht im Stich lassen.”
Gemeinsam mit Heiko Dannat und Marko Bittersmann wechselte er im Sommer 1998 von der Elbe an die Saale. Erneut folgten Jahre in Sachsen-Anhalts höchster Spielklasse und in der Landesliga, doch wenn Harant die Erlebnisse bei beiden Stationen seiner Karriere abwägt, kommt er zu folgendem Schluss: “Die Vergangen- heit ist ein Paket. Highlights gab es hier und da, das lässt sich nicht trennen.” Weil aber auch an Torhütern die Zeit nicht spurlos vorbeigeht, sollte die Saison 2011/2012 die letzte für die Nummer eins der TSG sein. So war der Stand bis zum 11. April 2011.
An jenem Montag stand gewöhnliches Mannschaftstraining an, ein kleines Erwärmungsspiel, Fünf gegen Zwei. “Ich gehe zum Ball, mache einen Ausfallschritt, das linke Bein sackt weg und es gibt einen lauten Knall.” Im ersten Moment dachte er an einen Mitspieler, der ihm in die Parade gefahren war. “Aber als ich mich umdrehe, war niemand da und ich wusste: Das war die Achillessehne.”
Seither bestritt Harant, verheiratet und Vater von drei Kindern, kein Spiel mehr für die TSG. “Ich habe die Ärzte gefragt und die meinten, es wäre möglich, dass es in ein, zwei oder drei Jahren wieder besser wird.” Aber irgendwann siegte der Schmerz im hinteren Teil des Fußes, selbst das Joggen mit dem Hund funktionierte nicht. “Und wer kasteit sich schon gern selbst?”
Harant jedenfalls nicht und so schlug er auch das Angebot als Torwarttrainer der Calbenser aus. “Dann müsste ich den Fuß belasten können, um die Ãœbungen im Training vorzumachen, und das geht nicht. Also habe ich entschlossen, es zu lassen. Halbe Sachen mache ich nicht.” Vielleicht wird seine Familie ein Stück weit froh darüber sein, schließlich darf sie ihn nun wieder zu 100 Prozent für sich beanspruchen. “Ich bin allen dankbar, die mich unterstützt haben, aber meinen Eltern und meiner Frau besonders.”
So fällt heute Nachmittag für ihn der letzte Vorhang im Hegerstadion. Mit dem Spiel gegen die Westaltmärker schließt sich auch der Kreis zum April 2011. Am Sonnabend vor dem Trainingsunfall stand Harant die vollen 90 und nicht bloß fünf Minuten zwischen den Pfosten. “Wie es der Zufall will, hieß der Gegner damals Potzehne.”