Invasion der Latzhosen

23. October 2018

Wenn Roy Präger einen Treffer für Jerome Roussillon auflegt, Claudia Neto und Marcel Tisserand im Mittelfeld die Fäden ziehen und Stephan Lerch als Libero die Abwehr dirigiert, dann ist etwas Besonderes im Gang. Erst recht, wenn die übrigen Teammitglieder Flüchtlinge sind.

„Gemeinsam bewegen“ hat auch im Jahr 2018 wieder Menschen zusammenführt, die sich im Alltag niemals begegnen. Einer von elf Standorten, an denen sich die VfL-Familie Mitte September unter dem Motto „11 für 11“ engagierte, war das Vereinsgelände des SV Veltheim. Bereits am Vormittag machten sich hier fleißige Wölfe-Mitarbeiter in ihren markanten Arbeitsklamotten ans Werk, um Hand in Hand mit den Gastgebern am Spielfeldrand alte Bänke und einen Unterstand zu renovieren. Ein gemeinsames Grillfest überbrückte die Zeit bis zur Ankunft der Fußballprofis. Finale Pinselstriche folgten, ehe es für eine gemischte Einheit unter der Leitung Prägers und Lerchs auf den Platz ging. Eine unvergessliche Erfahrung für die Spieler der Veltheim Panthers, wie ihnen überdeutlich anzumerken war. Gegenmittel zu Frust und Lethargie

Gegenmittel zu Frust und Lethargie

„Eine geniale Aktion des VfL Wolfsburg“, schwärmte Teambetreuer Steffen Köppe, der selbst mitkickte und im finalen Jux-Spiel sogar einen Elfmeter parierte. „Wir alle waren so aufgeregt, dass wohl keiner von uns viel geschlafen hat.“ Das Besondere an diesem Projekt: Besucht haben die Grün-Weißen an diesem Tag keine Unterkunft für Geflüchtete, sondern ein richtiges Fußballteam mit einer märchenhaften Geschichte. Aus anfänglich wenigen Flüchtlingen in Sickte waren im Jahr 2015 rund 100 geworden. Die Enge, das zu verarbeitende Leid und der Mix aus Sprachen und Religionen führte in den Unterkünften zu Konflikten, woraus die Idee der Gründung einer Fußballmannschaft entstand. Mit dem SV Veltheim 1928 e.V. fand sich ein Sportverein, der selbst kein Herrenteam mehr zusammenbekam. In der dritten Nordharzklasse gingen die Veltheim Panthers 2015/2016 an den Start, stiegen sofort auf, zogen ins Kreispokalendspiel ein – und eroberten so die Herzen der Region.

Einer kickt schon in der Landesliga

Wie Integration gelingen kann, wenn sich nur genügend Menschen dafür einsetzen, dafür geben die Panthers ein Paradebeispiel ab. Die Gewaltprobleme sind lange kein Thema mehr. Der Teamgedanke des aktuell 27 Mann starken Kaders hat die Truppe um Trainer Alex Belleh, obwohl die Spieler aus zehn Nationen stammen, die teilweise Kriege gegeneinander führen, zusammengeschweißt. „Das Schöne ist, dass den Jungs auch abseits vom Fußball nicht mehr die Decke auf den Kopf fällt, denn inzwischen haben wir ein erfolgreiches Ausbildungsprogramm“, so Christian Müller, stellvertretender Bürgermeister der Samtgemeinde Sickte, der die Panthers gemeinsam mit Köppe – im Hauptberuf Ordnungsamtsleiter und damit zuständig für die Flüchtlingsunterbringung – ehrenamtlich betreut. Mittlerweile hat der sportliche Erfolg auch Spieler aus Braunschweig, Peine und Wolfenbüttel angelockt. Der Goalgetter der Aufstiegssaison, der Ivorer Ladji Doumbia, war nach 30 Toren in neun Spielen (!) nicht zu halten und ist inzwischen beim HSC Hannover in der sechsten Liga aktiv.

Fleißige Wölfe in der ganzen Region

Verdiente Unterstützung der Wölfe erhielten zeitgleich auch zehn andere Einrichtungen, Institutionen und Projekte. Ob auf dem Rittergut Beienrode, bei den Wolfsburger Elfen, im Hospiz Salzgitter, im Seniorenheim der Wolfsburger AWO oder auf dem Geländer Katholischen KiTa St. Altfrid in Gifhorn – überall machten sich die insgesamt rund 200 grün-weißen Helfer, vom Geschäftsführer bis zum Praktikanten, an die Arbeit, um Gutes zu tun. Auch 2016 hatte der VfL Wolfsburg schon elf soziale Projekte auf die gleiche Art unterstützt und war nach einem gemeinsamen Frühstück in der Volkswagen Arena in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt. So lief es in diesem Jahr wieder.

Unvergessen: Gustavo im Bagger

Seinen Ursprung hat „Gemeinsam bewegen“ in einer damals beispiellosen Aktion von 2013. Ein Hochwasser hatte seinerzeit die TSG Calbe vor massive Probleme gestellt. Dem Hilferuf des Landesligisten kamen die Grün-Weißen nach, reisten mit einem Tross von 100 Geschäftsstellen-Mitarbeitern, Spielerinnen und Spielern in den Magdeburger Süden und packten mit an. „Die Szene mit Luiz Gustavo im Bagger, der einen Graben für das Kabel der Flutlichtanlage verlegt hat, ist hier bis heute legendär. Immer noch werden Geschichten darüber ausgetauscht, wer mit wem gewerkelt hat damals“, berichtet Stefan Lenhart. Der Pressesprecher der TSG war damals frisch im Amt und ist immer noch überwältigt von der Hilfsbereitschaft, die mit der VfL-Aktion seinerzeit ins Rollen gekommen ist. „Vom überregionalen Interesse haben wir anschließend enorm profitiert. Eine Energiefirma aus Mittelfranken zum Beispiel hat 5.000 Euro gespendet, einfach infolge eines Fernseh-Berichts.“

Calbe meldet: Alle Aufräumarbeiten beendet

Heute, fünf Jahre später, ist der Klub aus dem Allergröbsten raus. „Erst vor ein paar Wochen haben wir festgestellt, dass wir im Prinzip mit allem durch sind. Jetzt können wir sagen: Das Hochwasser ist bewältigt“, so der 34-Jährige, der die weiteren „Gemeinsam-bewegen“-Tage der Grün-Weißen aus der Ferne verfolgt hat. Den Kontakt zu den Wölfen hat man über die Jahre in Calbe gehalten. Schon mehrfach besuchten Reisegruppen aus der 10.000-Einwohner-Stadt im Salzlandkreis die Spiele in der Volkswagen Arena Heute ist die TSG offizieller VfL-Partnerverein. Lenhart ist sich sicher: „Mit seinem Besuch hat der VfL ohne Frage viele Fans in unserer Region für sich gewonnen.“

Double-Siegerin will dauerhaft helfen

Nachhaltig angelegt ist „Gemeinsam bewegen“ ohnehin. Dass die Begeisterung für die einzelnen Projekte aber auch eine gegenseitige Wirkung hat, das bewies in diesem Jahr Ella Masar. Die US-amerikanische Mittelfeldspielerin von den VfL-Bundesliga-Frauen gehörte ebenfalls zur VfL-Delegation, die sich in Veltheim engagierte. Von der herzlichen Begegnung mit den Spielern aus Ländern wie Liberia, Eritrea, der Elfenbeinküste, Simbabwe, Syrien, Angola, Nigeria und dem Sudan zeigte sich die US-Amerikanerin so ergriffen, dass sie direkt vor Ort auf den Betreuer zuging und anbot, ab sofort regelmäßig mit den Panthers zu trainieren. „Ich bin selbst Ausländerin und habe hier wieder erlebt, welche Kraft der Fußball haben kann. Egal, woher jemand kommt, alle sind wie eine Familie“, so Masar. „Dieser Tag war so toll. Deshalb möchte ich unbedingt wiederkommen.“

Quelle: “Unter Wölfen Magazin” des VfL Wolfsburg, Oktoberausgabe 2018


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